Angela Davis spricht über "Jazz and Race" (2024)

Bei der Podiumsdiskussion über "Jazz and Race" am Sonntagabend kalifornischer Ortszeit war Angela Davis in Höchstform. Immer noch? Mal wieder? Wie immer? Spätestens seit sie 1970 vom FBI als eine der Most Wanted in the USA gejagt, gefasst, dann wegen Beihilfe zum Terrorismus mit der Aussicht auf Todesstrafe vor Gericht gestellt und am Ende in allen Punkten freigesprochen wurde, ist sie eine Galionsfigur der progressiven Bewegung. Und mit ihrem kristallklaren Blick und der damals so provokanten Afrofrisur war sie lange auch die plakative Frontfrau der Black-Power- und Protestbewegung. Was zuweilen vergessen ließ, dass sie nicht nur eine radikale Figur, sondern vor allem eine Intellektuelle mit einer Feuerkraft ist, die jedes Podium mit ihr in ein Ereignis verwandelt. Auch wenn sich das in den vergangenen Jahren zunehmend in akademischen Zirkeln Amerikas abspielte, die keine so breite Wirkung mehrentfalten.

Den kristallklaren Blick hat sie immer noch. Auch metaphorisch. Und weil Jazz auch immer eine der besten Metaphern für Demokratie und Freiheit war, konnte sie die vom Institut SF Jazz in San Francisco veranstaltete Debatte mit der Schlagzeugerin Terri Lyne Carrington, der Banjospielerin Rhiannon Giddens und dem Jazzkritiker Nate Chinen auch von Anfang an auf eine politisch-historische Ebene hieven. "Jazz liefert uns kein strukturelles Modell unserer amerikanischen Demokratie, weil das eine Demokratie ist, die auf dem Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen basiert", fing sie gleich mal an. "Eine Demokratie, die vor allem Männer repräsentiert. Aber Jazz hilft uns, dass wir uns eine radikale Zukunft vorstellen können." Freiheit sei eben kein Zustand des Individuums, sondern die Praxis des Kollektivs. Ja doch, Angela Davis war lange eine der Führungsfiguren der Kommunisten in den USA. "Jazz führt uns immer wieder die Komplexität der Freiheit vor Augen. Dass sie kein Ziel ist, nach dem man strebt, sondern ein Prozess, der sich ständig erneuert und die aktive Teilnahme aller Zuhörer verlangt." Ja doch - das Grundmuster des Jazz sei "call andresponse".

Der Jazz hatte bei all seinem politischen Engagement immer ein Genderproblem

Moderator Claude Steele, Sozialpsychologe von der Stanford University, der das Grundlagenwerk der Stereotypen-Forschung, "Whistling Vivaldi", geschrieben hat, hatte ihr allerdings auch eine Steilvorlage geliefert. "Diese Haltung, dass Rassismus nicht ein Teil von uns sei, ist doch nur Selbstgefälligkeit", sagte er. "Die Polizeigewalt. Der Dogwhistle-Rassismus des letzten Präsidenten. Die unfassbare Ungleichheit während der Pandemie. Das ist ein Moment derAbrechnung."

Und Terri Lyne Carrington fügte an: "Wir können die Genderfrage nicht aus der Debatte ausklammern." Schwarze Frauen seien marginalisiert wie keine andere Bevölkerungsgruppe. Queere schwarze Frauen sowieso. Steele pflichtete ihr bei: "Man darf nicht vergessen, dass es schwarze Frauen waren, die mit ihrer Basisarbeit dafür gesorgt haben, dass ein anderer Präsident gewählt wurde." Alle waren sich auch einig, dass der Jazz bei all seinem Engagement für den Bürgerrechtskampf immer auch ein Genderproblem hatte. "Während der Vierzigerjahre gab es viele großartige Musikerinnen", sagte Davis. "Die dann ihre Instrumente wieder abgeben konnten, als die Männer aus dem Kriegheimkamen."

Das hat sich nicht geändert. Terri Lyne Carrington brauchte lange, bis sie als Schlagzeugerin nicht mehr dauernd daran denken musste, dass sie ja eine Frau sei. Erst als sie mit der Pianistin Geri Allen und der Bassistin Esperanza Spalding in einem Trio spielte, sei ihr das so richtig bewusst geworden. "Die haben mir erzählt, wie schwer sie sich taten, diese inneren Monologe loszuwerden. Dieses ständige Nagen - bin ich stark genug? Mag der mich? Haben die mich nur engagiert, weil ich süß bin?" Und ja, Angela Davis merkte auch an, dass im Gendern wiederum die Problematik stecke, dass nicht-binäre Menschen keine Genderdebatte führen, weil es ihnen nicht ums Gendergehe.

Was alles auf einem akademischen Niveau mit souveränem Kampfgeist verhandelt wurde, der vielleicht auch deswegen so in sich ruhen konnte, weil sämtliche Teilnehmer recht gut dotierte Jobs haben: Angela Davis als Distinguished Professor Emerita am Department of Consciousness der University of California in Santa Cruz zum Beispiel, Terri Lyne Carrington mit ihrem Job als Dozentin an der legendären Jazzschule Berklee College of Music in Boston. Man könnte nun anmerken, dass keine/r in der Runde zur übergroßen amerikanischen Volksgruppe der Menschen mit Melaninproblemen gehörte. Aber es müssen keine Weißen oder gar Konservative in so einer Debatte sitzen. Das System des Rassismus und des Patriarchats ist ein Gegner, der groß genug ist, um sich an ihmabzuarbeiten.

Aber auch dafür hatte die Runde Gespür. Denn es sei ja ebenfalls ein Problem des Jazz, dass er zum einen kaum noch schwarzes Publikum habe, was auch daran liege, dass viel zu viele Institutionen ihn musealisieren wollten. Nate Chinen zitierte aus Amiri Barakas Essay "Jazz and the White Critic" von 1963, als der Dichter selbst noch Kritiker war: "Die meisten Jazzkritiker waren bisher weiße Amerikaner, die meisten wichtigen Jazzmusiker waren das nicht", sei der erste Satz gewesen. Und er habe geschrieben: "Das größte Problem dabei ist, dass der weiße Kritiker die schwarze Musik ihrer sozialen und kulturellen Intention beraubt. Sie versucht, den Jazz als eine Volkskunst zu definieren, die aus keinem intelligenten sozial- oder kulturphilosophischen Korpus hervorgegangenist."

Das, so Carrington, sei aber ein Grundvorurteil schwarzer Kultur gegenüber. Selbst innerhalb der Kulturszene. "Hip-Hop ist die Musik der Straße, und wir müssen den jungen Musikern zuhören, weil die erstaunlich progressive Sachen machen." Analyse greife freilich immer zu kurz, meinte Davis noch. "Als jemand, der Ästhetik studiert, interessiere ich mich für die Art von Sprachen und Kenntnissen, die der Jazz hervorbringt, Kenntnisse, die nicht nur durch unsere Fähigkeit zu verstehen, zu analysieren, sondern auch durch unsere Fähigkeit zu fühlen erfasst werden. Historisch gesehen war das Fühlen kein Teil des philosophischen Verstehens, es war ein anderer Modus, die Welt zu erfahren. Musik hilft, neue Erkenntnisse zu schaffen und hilft uns, gemeinsam zu fühlen, Schmerz und Freude. Sie ermöglicht es, das zu verarbeiten, was unvorstellbar ist. Nehmen Sie John Coltranes ,Alabama'" - das Stück, das auf einen rassistischen Bombenanschlag reagierte, bei dem vier Mädchen ermordet wurden. "Wir waren nicht in der Lage zu verarbeiten, was in der 16th Street Baptist Church im Oktober 1963 geschehen war. Coltrane erlaubte uns nicht nur, uns unserer Trauer zu stellen, er gab uns auchHoffnung."

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